08 August 2006

Dichtung und Wahrheit

Die größte Lüge wird zur Wahrheit, wenn Sie ungeprüft daran glauben

Es gibt, wie wir wissen sollten, keine Wahrheit, die für jedermann und für alle Zeiten gilt. Jeder, der uns seine Wahrheit als unsere Wahrheit verkaufen möchte, kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir ihm ungeprüft glauben.

Politische Parteien, und nicht nur sie, leben davon, dass Millionen Menschen ihren Aushängeschildern und Funktionären die Botschaften glauben, die sie als Wahrheit verkünden. Wer an diese Wahrheit glaubt, wählt seine Partei, auch wenn sich viele der Versprechungen später als Lügen herausstellen.

Aber gutgläubige Anhänger zu allen Zeiten und aller Schichten wollen glauben. Sie klammern sich an Botschaften anderer Leute, weil sie selbst keine Botschaft oder Wahrheit für sich selbst besitzen.

Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bereits Millionen Deutsche daran zweifelten, dass ihre Armeen siegen könnten, schrieen trotzdem einige hunderttausend begeisterte Bürger bei einer Massenveranstaltung in Berlin "Ja", als sie gefragt wurden: "Wollt ihr den totalen Krieg?" Viele von ihnen glaubten daran, obwohl es sich später als Lüge herausstellte, dass durch dieses Bekenntnis der Krieg noch zu gewinnen sei.

Heute glauben Millionen Menschen von Atlanta bis Wladiwostok, dass eine Limonade namens Coca-Cola ihnen Frische und Jugendlichkeit verleiht, obwohl noch vor 70 Jahren dieses Getränk in den USA einige Zeit lang für die amerikanische Armee verboten wurde, weil es angeblich Suchtgift enthält.


Heute sind Coca-Cola, McDonald's und Computer, Mercedes und Internet Glaubensbekenntnisse. Aber ist es die Wahrheit, dass die Welt ohne sie nicht mehr existieren könnte?

Wahrheit, Glaube und Lüge, wer kann Ihnen sagen, was das eine oder das andere ist? Wer weiß, was Kunst und was Kitsch ist? Wer bestimmt, ob das Gemälde eines alten oder neuen Meisters fünf, zehn oder 50 Millionen wert ist? Wer daran glaubt, wird es bezahlen.


Wer seine eigene Wahrheit gefunden hat und die Maßstäbe und Wahrheiten anderer danach prüft, ist keineswegs davor gefeit, einem Lügner auf den Leim zu gehen. Vielleicht macht ihn diese Lüge sogar glücklich. Allerdings nur so lange, wie er daran glaubt. Irgendwann einmal, wenn die Zweifel beginnen, steht er, wie in so vielen Situationen des Lebens vor der Entscheidung:


Verdränge ich meine Zweifel, weil es für mich besser ist, wenigstens an irgend etwas zu glauben als an gar nichts. Und mache ich trotz aller Bedenken eine Lüge zu meiner Wahrheit? Oder glaube ich an mich und meine Fähigkeit, selbst entscheiden zu können, was für mich Wahrheit oder Lüge ist?


Wie Sie sehen, können uns Wahrheiten und Lügen glücklich machen. Auch Wahrheiten, hinter denen sich die größten Lügen verbergen. Aber immer liegt es an uns, wem wir mehr Glauben schenken: uns oder anderen.

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