19 Jänner 2007

Nachgedacht - Über das Mitleid für andere

Zu den Vorstellungen vom guten Menschen, der viele von uns zu sein vorgeben, gehört die Warnung: "Wer kein Mitleid empfindet, ist hartherzig." Eine Behauptung, die Herzen rührt und Schuldgefühle erweckt. Und nichts macht Menschen so lenkbar, wie die Angst, in den Augen der Mitwelt kein guter Mensch zu sein.

Dabei verhält es sich mit dem Mitleid ähnlich wie mit der Mahnung zur Nächstenliebe. Sie wissen ja: "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst." "Wie dich selbst. .." aber setzt voraus, dass wir zuerst uns selbst lieben, ehe wir jemanden anderen lieben können. Eine Aufforderung zum gesunden Egoismus. Welchen Grund hätten Egoisten also, sich schuldig zu fühlen?

Mitleid zu zeigen ist die Ermahnung, mit jemand anderem mitzuleiden, dem es schlechter geht als uns. Wir sollen mit ihm leiden. Wenn es uns gut geht, wenn wir aus eigener Kraft glücklich sind, sollen wir unsere Selbstsicherheit verleugnen und uns zum Leiden zwingen und Opfer bringen.

Ist es nicht interessant, dass die Leute, die uns diese Botschaft vermitteln, meistens auch jene sind, die uns ihre Kontonummer bekannt geben, auf die wir unser Schuldgefühl in barer Münze einzahlen sollen ? Auf diese Weise bekommen wir die Nutznießer unserer Opferbereitschaft erst gar nicht zu Gesicht. Statt den Erfolg und die Freude unseres Mitleids selbst zu erfahren, nehmen andere sie für sich in Anspruch. Was also tun wir wirklich für jemanden, der Hilfe braucht? Wir benutzen unsere Opferbereitschaft als Entschuldigung dafür, selbst nichts für ihn zu tun.

Was nützt es also uns selbst und dem Hilfsbedürftigen, wenn wir mit ihm leiden? Wie es scheint, nützen wir weder ihm noch uns. Wenn wir mit jemandem leiden, unterstützen wir ihn nur in seinem Leiden. Wir trösten ihn damit, aber wir zeigen ihm nicht, welche Erfahrungen wir selbst gemacht haben, um unsere eigenen Leiden zu bewältigen.

Wir verhalten uns wie Eltern, die ihre Kinder durch übertriebene Fürsorge daran hindern, selbst aus Fehlern zu lernen, statt ihnen vorzuleben, wie man Probleme löst. Natürlich werden diese Eltern manchmal darunter leiden, wenn das Kind eine Niederlage erleidet. Aber hilft man ihm nicht besser durch die Ermunterung, es noch einmal zu versuchen, statt mit ihm zu leiden und dadurch sein eigenes Leid zu verstärken?

Jeder, dem es schlecht geht, hat- wie wir alle -immer zwei Möglichkeiten, etwas zu verändern: Entweder er stärkt seine Kräfte und hilft sich selbst, oder er macht sich vom Mitleid anderer abhängig und lernt nie, sich selbst zu helfen.

Vermutlich sagen Sie jetzt: "Aber es gibt doch so viele Menschen in der Welt, die unsere Hilfe brauchen. Denen muss doch geholfen werden." Ein starkes Argument. Aber warum gehen Sie nicht hin und helfen ihnen wirklich? Statt sich von Ihrem Schuldgefühl mit einer anonymen Spende freizukaufen, die weder Ihnen noch dem etwas nützt, der vielleicht Ihre Hilfe braucht.

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